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Vor dir sitzt eine Frau und sie fängt an, dir zu erzählen, dass irgendwas mit ihrer Tochter nicht stimmt. So startete der heutige Workshop. Irgendwie hat uns ja die ganze Sache doch irritiert…meint die Frau das jetzt ernst oder ist es doch nur gespielt? Ich glaube, das war die Frage, die wir uns alle stellten. Und was hat das jetzt mit dem Gesicht zu tun?

Wir saßen alle in einem Kreis als Frau Ke, die heutige Sprecherin, ankündigte, dass sie einige Gäste eingeladen hätte. Wir sollten ihnen einfach nur zuhören und herausfinden, was passiert ist. Und so sind wir in die grad beschriebene Szene reingerutscht. Eine Frau kam langsam in den Raum und setzte sich auf einen Stuhl. Miss Ke bat sie dann, etwas über sich zu erzählen. Die Frau starrte erstmal regungslos auf den Boden, dann erhob sie langsam ihren Kopf und fing an mit einer sanften und leisen Stimme zu erzählen, dass sie folgendes Problem hatte:

Sie hat eine Tochter, die ausgezogen ist, um Lehrerin zu werden. Das bedeutete, dass sie eine Zeit lang keinen Kontakt mehr zu ihr hatte. Eines Tages rief sie ihre Tochter an, um sich nach ihrem Wohl zu erkundigen. Die Tochter verhielt sich sehr komisch am Telefon, daher fragte sie, ob alles in Ordnung sei. Doch die Tochter behauptete dass alles gut wäre. Aber als ihre Mutter konnte sie fühlen, dass etwas nicht richtig war. Was ist passiert?

Es wird Zeit für Befragungen

Unser Ziel war es nun, genau das herauszufinden. Dafür kamen mehr Menschen in den Raum. Sie alle standen in Verbindung mit der Tochter der Frau. Wir wurden in kleine Gruppen aufgeteilt und hatten immer 10 Minuten um die Mutter, eine Zimmernachbarin, einen Arbeitskollegen und ihre Schüler auszufragen und um herauszufinden, was passiert war.

– Die Mutter wusste nur das, was sie uns schon erzählt hatte. Ihre Tochter klang komisch am Telefon und es wirkte so, als ob sie was zu verheimlichen hätte
– Ihre Zimmernachbarin bekam gar nichts mit. Das Einzige, was ihr auffiel, war dass sie sich im Bad einmal lange einschloss
– Der Mitarbeiter fand sie sehr hübsch, hatte aber nur ein kurzes Gespräch mit ihr auf der Betriebsfeier
– Die Schüler konnten sich daran erinnern, dass der Direktor die Lehrerin einmal aus dem Klassenzimmer holte

Die Auflösung

Nachdem wir die Informationen gesammelt hatten, haben wir unsere Beobachtungen ausgetauscht und Überlegungen angestellt, was denn jetzt passiert sein könnte. Anschließend offenbarte die Tochter persönlich was geschehen sei.

Sie hatte keine Ahnung wieso sie ins Büro gerufen worden war. Aber sie fühlte sich definitiv unwohl in Gegenwart des Schuldirektors. Wieso? Er war verheiratet und flirtete trotzdem mit ihr. Als er sie zu sich rufte, näherte er sich ihr und versuchte sie ohne ihre Zustimmung „anzufassen“. Sie fühlte sich so dreckig danach, dass sie sich im Bad einsperren musste. Sie konnte einfach mit niemanden darüber reden, denn sie fühlte sich so dreckig.

Das Gesicht hat einen unterschiedlichen Stellenwert in den Kulturen

Da wir jetzt wussten was passiert war, sollten wir die Szene nachstellen. Jede Gruppe konnte zeigen, wie sie sich die Situation vorstellte. Außerdem sollten wir noch entscheiden, wie die umstehenden Personen reagieren würden, wenn sie jetzt wüssten, dass die Frau sexuell belästigt wurde. Und genau hier gab es einen verdammt großen Unterschied in den Kulturen. Unsere chinesischen Partner zeigten uns, dass die Frau selber schuld sei. Doch die Deutschen würden der Lehrerin helfen und auch mit ihr zur Polizei gehen. „Wieso würdet ihr nicht zur Polizei gehen?“, fragten wir unsere Partner. Die Antwort ist sehr simpel; sie würden sich schämen. In Asien spielt Ansehen eine sehr große Rolle und du möchtest nicht „dein Gesicht verlieren“. Denn Ansehen und Stolz sind alles in Asien. Das Gesicht zu wahren hat eine zu große Bedeutsamkeit.

Meine eigene Erfahrung

Ich kann das total verstehen, immerhin bin ich selbst eine Asiatin und kenne diesen Druck. Von der Schule musste man immer gute Noten heimbringen, dann wurde nach den Noten meiner Mitschüler gefragt. Noten wurden immer verglichen, und falls ich mal ne schlechte Note hatte, dann war das eine Schande. Nach dem Rollenspiel haben wir diskutiert, wie man denn jetzt dieses Problem mit dem Direktor eigentlich löst. Nachdem unsere Austauschpartner gesehen haben, wie wir die Lehrerin nicht beurteilten, hat sich bei ihnen was getan. Ich glaube, dass sie etwas von uns lernen konnten. Wir haben ihnen eine andere Möglichkeit gezeigt. Und ich denke mal, dass wir auch bisschen stolz waren, dass wir unseren Partnern da was beibringen konnten.

Impressionen aus der Stadt

Nachdem wir den heutigen Workshop beendet hatten, ruhten wir uns in unserem Hotelzimmer aus und gingen dann nach draußen, um Abend zu essen, eine kleine Shoppingtour zu machen und die Stadt zu besichtigen.

Drei Dinge, die ich heute gelernt habe:

1) Stolz und Ansehen sind das wichtigste in Asien (das Gesicht bewahren)
2) Wenn du sexuell belästigt wirst, werden viele sagen, dass das deine eigene Schuld ist
3) Abends ist recht viel los auf den Straßen

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